„Wir brauchen eine neue Welle der Solidarität.“
Prof. Christoph Klein, Chef des Haunerschen Kinderspitals erklärt, weshalb Unternehmen gerade wegen Corona seiner Klinik und seiner Stiftung helfen sollten.
Seit Corona schätzen die Münchner plötzlich, dass sie in der Stadt Krankenhäuser von Weltruf haben. Freut Sie das als Klinikchef?
Das Bewusstsein dafür ist gewachsen. Das spüren wir auch. Seit Corona nehmen die Menschen wieder wahr, dass eine gute Fürsorge unserer Gesundheit nicht selbstverständlich ist.
Die medizinische Versorgung soll nun eine Schlüsselrolle für die Zukunft unseres Landes spielen. Wie glaubhaft halten Sie dieses politische Versprechen?
Das würde ich mir wünschen (lacht), dass die Entscheidungsträger in Politik, Selbstverwaltung und Gesellschaft zu dieser Grundüberzeugung kommen – und auch entsprechend handeln.
Was stimmt Sie so skeptisch?
Die Coronakrise hat in Deutschland nicht zu Verhältnissen wie im Iran, in Nord-Italien, oder in den USA geführt. Warum ist uns das gut geglückt? Weil wir wichtige Strukturen im Gesundheitswesen aufrechterhalten haben. Wir haben z.B. mehr Intensivbetten pro Einwohner als die meisten anderen Länder. Dennoch: Wenn wir das heutige System festschreiben und nur sagen, wir sind ja so toll, wäre das falsch.
Corona hat auch unsere Schwächen offenbart.
Seit Corona gilt aber das deutsche Gesundheitssystem als Vorbild.
Wir müssen das differenziert betrachten. Deutschland hat ein gutes Gesundheitssystem, jedes Jahr fließen allein ca. 100 Milliarden zur Finanzierung der stationären Versorgung unserer Patienten in die Krankenhäuser. Aber Corona hat auch einige Schwächen offenbart. Medizinische Masken waren z.B. plötzlich knapp in Deutschland, weil wir alles auf Kante genäht haben. Wenn dann China keine Masken mehr liefert, weil in Wuhan Corona tobt, haben wir hier ein Riesen-Problem.
Was läuft denn schief in unserem Gesundheitssystem?
Wir orientieren uns zu stark an Prinzipien der Profitabilität und Effizienz und verlieren dabei den Blick auf den kranken Menschen immer mehr aus dem Blick. In der Folge wurde in unserem Gesundheitssystem massiver Raubbau betrieben, insbesondere dort, wo Menschlichkeit gefragt ist und weniger Maschinen zum Einsatz kommen. Andererseits leisten wir uns Fehlallokation von Ressourcen in einem Umfang, den ich als besorgniserregend empfinde. Und es gibt enorme Fehlanreize für diagnostische und therapeutische Eingriffe, die nicht in erster Linie dem Patienten, sondern dem System nützen.
Wir sparen hart und verschwenden gleichzeitig Geld. Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Wir haben nicht mehr Herzkranke und Herzinfarkte als Schweden, Frankreich oder die Schweiz. Trotzdem macht Deutschland so viele Herzkatheter-Untersuchungen wie kein anderes Land der Welt. Dafür gibt es keinen ärztlichen Grund. Das tut den Patienten nicht gut, das hilft nur dem Budget des Arztes oder des Krankenhauses. Wenn wir diese Fehlanreize abschafften, hätten wir genug Geld im System. Wir könnten dann auch denen helfen, die momentan die Waisen der Medizin sind: Kinder mit seltenen Erkrankungen.
Warum lassen wir kranke Kinder im Stich?
Die Therapie seltener Kinder-Erkrankungen ist sehr teuer und personalintensiv. Das wird nicht mehr ausreichend finanziert. Kranke Kinder haben aber nach meiner Überzeugung ein Recht auf bestmögliche medizinische Versorgung, so legt es auch die UN-Kinderrechtskonvention fest. Es gibt viele Hinweise darauf, dass wir in Deutschland hier großen Nachholbedarf haben. Ich finde das beschämend.
Warum decken Krankenhäuser diesen Bedarf nicht ab?
Medizin für Kinder ist etwas ganz anderes als für Erwachsene. Unser Dr. von Haunersches Kinderspital im Herzen Münchens gibt es seit 1846. Wir sind nicht zufällig eine der ältesten Kinderkliniken der Welt. Heute haben wir hier Spezialisten für Krebs, Epilepsien, Leber- und Muskelerkrankungen und viele weitere Erkrankungen. Bei Kindern verlaufen diese Krankheiten anders als bei Erwachsenen. Jeder Arzt weiß das, nur fehlt uns für eine hochspezialisierte und dennoch ganzheitliche und altersgerechte Medizin zunehmend das Geld.
Wieso unternimmt die Regierung nichts dagegen?
Es gibt Umfragen im Auftrag der Bundesregierung, in denen 95 Prozent der Eltern sich sehr zufrieden über den Gesundheitszustand ihrer Kinder äußern. Das ist sicher auch ein großartiger Erfolg der Kindermedizin. Daraus wird aber gefolgert: Es ist alles super, aber das ist falsch. Das Problem sind die anderen 5 Prozent. Das sind Kinder mit chronischen, komplexen und seltenen Erkrankungen. Die werden vergessen.
Hat man bewusst auf Kosten der Kinder gespart?
Ja. Es gab im Prozess der Konsolidierung der Krankenhauslandschaft einen überproportionalen Abbau von Betten für kranke Kinder. Das entspricht betriebswirtschaftlicher Logik, widerspricht aber klar dem, was kranke Kinder brauchen. Mit der Meinung stehe ich nicht alleine. Hier besteht eine Allianz aller deutschen Universitätskinderkliniken.
Wie wollen Sie das Kostenargument entkräften?
Das hat der amerikanische Nobelpreisträger James Heckman schon vor 20 Jahren getan. Er und sein Team haben gezeigt, dass nichts mehr Rendite bringt als ein Investment in die Gesundheit und Bildung von Kindern. Das Problem ist nur: diese Rendite kommt erst nach 20 bis 30 Jahren. So weitsichtig denkt keiner mehr.
Wir haben auch eine soziale Schieflage im System.
Wann spüren deutsche Mütter und Väter die Misere?
Wenn Sie das Glück haben, über eine herausragende Stellung in unserer Gesellschaft zu verfügen, spüren Sie wohl nichts. Dann wird sich schnell jemand kümmern. Wenn Sie ein normaler Bürger sind und Ihr Kind schwer krank wird, machen Sie unter Umständen traumatische Erfahrungen. Da haben wir auch eine soziale Schieflage im System.
Erstaunlich, dass das die Münchner kalt lässt. In Edel-Restaurants wird endlos über Lehrer, Kitas und Gymnasien diskutiert.
Alle wollen das Beste für ihre Kinder, auch Gutverdiener und Besucher von Edel-Restaurants. Aber wir sollten das nicht zu oberflächlich diskutieren. Ich wage die provokante These: Es gibt kein größeres Human-Experiment mit nicht einwilligungsfähigen Probanden als unser Schulsystem.
Und? Wie läuft das Experiment?
Wir sind dabei, ein ernstes Problem unserer Gesellschaft zu erzeugen. Wir zählen, wie viele Computer eine Schule hat. Die Pädagogen werden ihrer eigentlichen Rolle, Begleiter des Kindes zu sein, nicht mehr gerecht. Sie versuchen, möglichst viel Wissen in die Köpfe der Schüler zu hämmern.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen Kinder zu mündigen Bürgern erziehen, ihre Talente zur Entfaltung bringen, ihrer Neugier Raum geben. Kinder müssen kreativ bleiben. Das ist doch auch in wirtschaftlicher Sicht ein ganz wichtiger Punkt. Unser Land lebt von der Kreativität und der Innovationskraft unserer Menschen. Genau das wird von unseren Schulen nicht mehr ausreichend gefördert. Da liegt ein weiter Weg vor uns.
Wir müssen mehr auf die Rechte der Kinder achten.
Was müssen wir im Gesundheitssystem ändern?
Wir müssen die Patienten wieder ins Zentrum unserer Sorge stellen. Im Blick auf Kinder brauchen wir eine neue Sensibilität. Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen. Wir müssen damit aufhören, die Kindheit nur im Licht eines zukünftigen Bruttosozialproduktes zu sehen. Wir müssen mehr auf die Rechte kranker Kinder achten und Fehlallokationen abschaffen.
Welche Ziele hat Ihre Care-for-Rare Foundation?
Kein Kind soll mehr an einer seltenen Krankheit sterben, egal, ob seine Eltern Geld haben oder nicht. Care-for-Rare engagiert sich in fünf Förderlinien „Alliance, Academy, Aid, Awards und Awareness“. Im Rahmen eines globalen Netzwerkes unterstützt die Stiftung die Erforschung seltener Kindererkrankungen. Dafür brauchen wir Drittmittel und Spenden. Wenn wir die Ursachen dieser Erkrankungen identifizieren, können wir dringend nötige neue Therapien entwickeln. Wir gewinnen aber auch Erkenntnisse, die die Medizin insgesamt voranbringen.
Hat das auch Erwachsenen geholfen?
Sehr oft! In den 40er Jahren gab es einen engagierten Arzt, der ein Kind mit 14 Episoden einer Lungenentzündung betreute. Zum Glück gab er sich mit dem Lehrbuchwissen nicht zufrieden. Er fand heraus, dass sein Patient keine Antikörper im Blut hatte – und dass das eine wiederkehrende bakterielle Infektion fast garantierte. Diese Erkenntnis hat 70 Jahre später zur Entwicklung eines Medikamentes geführt, das Tausenden von Menschen mit einer Leukämie-Erkrankung geholfen hat.
Was erforschen Sie mit Ihrer aktuellen Päd-COVID-19 Studie?
Kinder sind von Corona viel weniger bedroht als Erwachsene. COVID19 ist bei Kindern eine „seltene Erkrankung“. Kinder, die schwer an Corona erkranken, sind untypisch. Es muss also spezielle Faktoren geben, die sie für das Virus anfällig machen. Und es muss Faktoren geben, die Kinder im Durchschnitt deutlich resistenter gegen Corona machen. Wenn wir dies herausfinden, können wir unter Umständen auch Therapien entwickeln, die allen helfen. Bis dahin ist es zwar ein langer Weg, aber wir müssen ihn anfangen.
Care-for-Rare kann die Brücken zur Wirtschaft bauen.
Könnten unsere Unternehmen Sie da finanziell unterstützen?
Ja unbedingt. Wir brauchen eine neue Welle der Solidarisierung im Interesse der Schwächsten der Schwachen. Wir suchen seit Jahren das Gespräch mit Vertretern des Gewerbes, der Industrie und der Familienunternehmen. Care-for-Rare ist ein gutes Instrument, um hier Brücken zwischen Kindermedizin und Wirtschaft zu bauen.
Ist nicht der Staat in der Pflicht, das besser zu finanzieren?
Der Staat soll sich kümmern, der Staat soll alles richten - diese Haltung ist nicht mehr zeitgemäß. Das Deutsche Sozialgesetzbuch ruht auf subsidiären Prinzipien. Jeder soll das tun, was er tun kann. Niemand soll sich herausreden mit dem Argument: Ich zahle meine Steuern.
Wie überzeugen Sie Unternehmer, die sagen: Spenden vielleicht, aber erst nach der Krise.
Ich habe Verständnis für alle, die in diesen schwierigen Zeiten zunächst zurückhaltend sind. Wir sollten aber nicht vergessen: Schenken tut beiden Seiten gut. Jeder, der etwas gibt, wird hundertfach zurückbeschenkt. Das haben wir vergessen in einer Zeit, in der sich Menschen vor allem um sich selbst kümmern. Es ist nicht der Porsche in der Garage, der glücklich macht. Neue Studien zeigen glasklar: Menschen, die freimütig geben, aktivieren ihre Belohnungszentren im Gehirn. Sie sind glücklicher, ausgeglichener, sie sind gesünder und leben länger. Und der Witz ist: Sie haben sogar mehr Geld als Menschen, die nichts verschenken.
Macht das Spenden für Ihre Arbeit besonders glücklich?
Dafür sprechen viele Aspekte. Wir haben die Nähe zur Heimat, die Verbundenheit zu Bayern. Wir denken gleichzeitig global. Wir vernetzen kranke Kinder in Bayern mit international führenden Zentren in Stanford, Toronto, Boston, Tel-Aviv, Singapur und Hongkong. Wir übernehmen Verantwortung für die Gesundheit für Kinder in aller Welt. Das ist ein wunderbares interdisziplinäres Netzwerk.
Haben Sie sich gut regiert gefühlt in den vergangenen Wochen?
Ganz grundsätzlich ja. Ich bin sehr viel in den USA unterwegs. Im Vergleich dazu stehen wir in München blendend da. Ich hatte den Eindruck, dass sich unsere Regierenden ehrlich und aufrichtig bemüht haben, das Beste für unser Land zu tun, auch wenn manche Maßnahmen unpopulär waren. Ministerpräsident Söder hat das in Bayern prima gemacht. Es gab ja auch Stimmen, die alles für völlig falsch hielten.
An die Kinder hat man als letztes gedacht.
Wie hat sich das Krisen-Management auf unsere Kinder ausgewirkt?
Bei der Frage nach einer Rückkehr zu einer „neuen Normalität“ stand die Wirtschaft im Vordergrund. An die Kinder hat man als letztes gedacht. Wichtig war die Frage, wie es unseren Friseursalons, Autohäusern und Gaststätten geht. Man hat vergessen, dass auch Kinder ein Recht auf Bildung, Interaktion und Kommunikation außerhalb der Familie haben.
Provozieren wir die Zweite Welle, wenn wir im September die Schulen wieder öffnen?
Wir müssen umsichtig vorgehen. Es ist daher wichtig, dass in Bayern die Schulöffnung wissenschaftlich begleitet wird. Die Covid-Kids-Bavaria Studie ist eine Initiative der Bayerischen Staatsregierung. Ministerpräsident Markus Söder und Wissenschaftsminister Bernd Siebler haben das Projekt am 13. Juli 2020 im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt. Die Staatsregierung unterstützt das auch finanziell sehr großzügig. Wir koordinieren im Haunerschen Kinderspital diese flächendeckenden Aktivitäten, an denen alle sechs bayerischen Universitätskinderkliniken beteiligt sind.
Was genau untersuchen Sie da?
Wir werden bayernweit das Infektionsgeschehen in rund 140 Kitas, Kindergärten und Schulen sehr genau beobachten. Wir stimmen uns da eng mit den Gesundheitsbehörden ab. Sollten es zu einem Corona-Ausbruch kommen, was wir nicht wollen, wissen wir zumindest, wie die Ansteckung erfolgt. Und wir können sofort reagieren. Außerdem untersuchen wir die Folgen der Pandemie auf die allgemeine Kindergesundheit.
Könnte der Medienerfolg der Virologen auch der Kindermedizin einen Schub geben?
Da bin ich skeptisch. Einerseits war es gut, dass wissenschaftlich hoch geachtete Kollegen wie Christian Drosten von der Berliner Charité der Öffentlichkeit komplexe Zusammenhänge erklären konnten. Aber es gab andere, denen es wohl mehr um TV-Publicity ging. Die Kindermedizin versteht sich dagegen als Advokatin unserer Kinder – und die brauchen keinen „Glamour-Factor“.
Die Fragen stellte IHK-Redakteur Martin Armbruster.
Zur Person: Prof. Dr. Dr. Christoph Klein ist Direktor der Kinderklinik und Kinderpoliklinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin im Dr. von Haunerschen Kinderspital. Er hat 2009 die Care-for-Rare Foundation gegründet.
Care-for-Rare Foundation und Corona
Die Care-for-Rare Foundation unterstützt ehrenamtlich auch die Covid Kids Bavaria Studie des bayerischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Die Stiftung fördert auch weitergehende Studien, die die Wechselwirkung des Coronavirus mit dem Immunsystem untersuchen. Aktuell benötigt die Stiftung 300.000 Euro für diverse Investitionen im Haunerschen Kinderspital. Spenden sind willkommen!
Fragen beantwortet Stiftungsreferentin Stefanie zu Sayn-Wittgenstein:
Tel. 089 4400-57804, E-Mai: stefanie.sayn-wittgenstein@care-for-rare.org