Vizepräsidentin Dagmar Schuller: "Wir brauchen endlich einen Plan"
KI-Unternehmerin Dagmar Schuller spricht im Interview über Ehrenamt, Geschäftsmodelle, Frauen in der Wirtschaft und die Probleme des Standorts D.
Frau Schuller, das Präsidium der IHK ist weiblich wie nie. Ist das ein Signal des Aufbruchs?
Ich finde es jedenfalls sehr gut, dass wir im Präsidium diese Vielfalt haben. Geschlechterparität ist ein Gebot der Zeit. Auch in der Politik ist die Doppelspitze heute normal. Ziel ist aber nicht, Quoten zu erfüllen. Als IHK wollen wir Unternehmerinnen sichtbar machen. Das ist ein wichtiges Signal für Gründerinnen. Das steckt viel Potenzial, das man nutzen kann.
Warum ist dieses Potenzial bislang ungenutzt geblieben?
Nur knapp 16 Prozent der Gründer sind weiblich. Schon die Zahl ist bedenklich. In meinem Bereich Künstliche Intelligenz sind es nur 8 Prozent. Da sollten wir uns da schon nach dem Warum fragen.
„Wir denken immer noch zu stark in Klischee.s“
Haben Sie eine Antwort?
Wir denken immer noch zu stark in Klischees. Frauen nimmt man die technische Affinität nicht so ab. Andererseits haben sich die Ansprüche der Frauen verändert. Es geht nicht mehr um die Frage Familie oder Karriere. Junge Frauen wollen beides, Karriere und Familie. Um das hinzukriegen, muss eine Frau viel mehr jonglieren als ein Mann.
Haben die ganzen Initiativen und Programme für die Vereinbarkeit von Job und Familie nichts gebracht?
Es gibt da biologische Faktoren, die lassen sich natürlich nicht wegdiskutieren. Aber es macht einen Unterschied, ob ich als Angestellte in Mutterschutz gehe oder irgendwie ein Unternehmen weiterführen muss.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die das ermöglichen – Chefin und Mutter sein. Wir müssen Gründerinnen besser fördern. Darin sehe ich eine wichtige Aufgabe der IHK. Für sinnvoll halte ich etwa Mentoringprogramme, die vermitteln, wie eine erfolgreiche Unternehmerin tickt. Dieser direkte Austausch ist in der Startphase extrem hilfreich.
Was macht Sie da so sicher?
Ich bin an der Hochschule München Mentor für Tech-Studentinnen. Ich habe eine Mentée, die mich glasklar fragt: Soll ich nach meinem Master weitergehen in die akademische Welt, oder soll ich lieber in die Berufswelt einsteigen? Soll ich mir einen Job bei einem Konzern suchen, oder soll ich eine Gründung probieren? Wenn ich gründe, wie komme ich da an mein Geld? Muss ich Familie ausschließen, oder kann ich das irgendwie hinkriegen?
Was halten Sie für die wichtigsten Aufgaben eines guten Mentors?
Ich halte zwei Dinge für entscheidend: Man muss viel positive Motivation vermitteln und deutlich sagen „Du darfst auch Fehler machen“.
Sollten Gründer Fehler nicht tunlichst vermeiden?
Ich denke, wir brauchen da eine komplett andere Sichtweise. Jeff Bezos hat immer gesagt, Amazon wäre nicht das, was es heute ist, ohne eine aktive und positive Fehlerkultur. Das können wir hier noch nicht, genau das fehlt uns. Wenn wir etwas anfangen, erwarten wir, dass nach kurzer Zeit ein perfektes Produkt da ist. Schon der Prototyp muss perfekt sein, das ist klassische deutsche Ingenieurskultur.
Damit haben wir es weit gebracht. Denken Sie an unsere Autos.
Genau das ist heute unser Problem. Der Perfektionskult mag uns groß gemacht haben, heute lähmt er uns. Bei KI und Software funktioniert er so nicht analog. Es gibt eine berühmte Windows-Tastenkombination für den Fall, dass das Betriebssystem abstürzt. Hat das Microsoft geschadet? Nein, sie sind Marktführer in ihrem Segment, weil sie sich permanent verbessert haben. Mit der Einstellung, ständig Perfektion zu erwarten, stehen wir uns selbst im Weg. Darunter leiden Gründerinnen besonders.
Woran liegt das?
Frauen fällt es nach wie vor schwerer, die Balance zu halten, weil sie ständig gegen Klischees kämpfen müssen. Bei jedem Fehler werden sie sofort stigmatisiert als Rabenmutter oder als kalte Business-Frau. Als Folge setzen sich Frauen Ziele, die in der Realität kaum zu erfüllen sind: Ich will die perfekte Mutter sein, gleichzeitig will ich die perfekte Karriere machen.
„Wenn wir Ihnen Geld geben, können Sie das auch ausgeben?“
Das Prinzip Überforderung …
Genau, das kostet unwahrscheinlich viel Nerven, Kraft und Energie. Ich bin mir sicher, mit einer wirklichen Fehlerkultur könnten wir nicht nur Unternehmerinnen fördern. Wir würden auch in unserer Wirtschaftsregion ein deutlich höheres Potenzial an Unternehmen und Wachstum erschließen.
Haben auch Ihnen Männer Fragen gestellt, die sie nur Frauen stellen?
Ich wurde sehr deutlich gefragt: Du hast ja Kinder. Wie willst Du das machen? Als ich Investment-Gespräche für mein Unternehmen geführt habe, saß ich in einer reinen Männerrunde. Ich habe mir gedacht: Pass‘ auf, da kommen jetzt Fragen, die haben mit dem Geschäft überhaupt nichts zu tun, die sind nur klischeehaft.
Ich wurde dann gefragt: Wenn wir Ihnen Geld geben, können Sie das auch ausgeben? Ich hatte Mühe, nicht laut zu lachen. Es ging da ja nicht um eine Kollektion an Hermès-Handtaschen. Wir verhandelten über ein Millionen-Investment. Das war vollkommen bizarr.
Um Ihr Thema Künstliche Intelligenz haben Politik und Medien einen ziemlichen Hype entfacht. Begrüßen Sie das?
KI mystifizieren ist ja ganz schön, aber das schürt auch Vorbehalte und Ängste. Mir wäre lieber, wenn wir diese Technologie mehr erklären und größere Transparenz schaffen würden.
Gut, fangen wir damit an. Wir erklären Sie dem Bürger auf der Straße, was Sie hier tun?
Wir nutzen Künstliche Intelligenz, um das Audio-Signal der menschlichen Stimme zu analysieren. Dabei geht es nicht um das, was gesagt wird, sondern wie jemand etwas sagt. Wir nutzen Algorithmen, um im Sprachsignal Muster und Marker zu erkennen, die für bestimmte Gesundheitszustände und Wohlfühlzustände typisch sind.
"Sprechen ist ein wahnsinnig komplexer Prozess"
Gibt denn dieses Sprachsignal so viel her?
Sprechen wird als sehr natürlich und leicht wahrgenommen, aber der ganze Prozess ist sehr komplex und faszinierend. Wir schauen uns den motorischen Bereich an. Sehr viele Muskeln werden aktiv, um Sprache zu produzieren: die Wangenmuskulatur, Zunge Stimmlippen, Stimmbänder, der Kehlkopf, Brustmuskulatur, Lunge. Wenn da etwas nicht stimmt, können sie das im Audiosignal hören und messen.
Wir untersuchen auch den kognitiven Bereich, das Gehirn. Wenn da etwas nicht stimmt, werden die Muskelgruppen anders gesteuert. Klassisches Beispiel: Sie sind gestresst, dann sprechen Sie anders, Ihr Rhythmus wird schneller, Sie wissen nicht, wie Sie antworten sollen. Neurodegenerative Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer wirken sich auch aus auf das Gehirn. In Sprachtests kann man das beispielsweise auch erkennen.
Dann gibt es den klassisch physiologischen Bereich. Einfach gesagt: Wenn ich jogge, dann spreche ich anders, als wenn ich sitze. Es gibt viele Merkmale, aus denen man Rückschlüsse ziehen kann. Dazu gehört auch, wie viel ein Mensch spricht. Wenn er krank wird, ändert sich das signifikant.
Wenn jemand schwer Asthma oder Depressionen hat, hört man das doch auch ohne Software …
Das stimmt, aber erst wenn die Erkrankung schon weit fortgeschritten ist. Ziel ist es aber, Krankheiten möglichst früh zu erkennen, um eine bessere Behandlung zu ermöglichen. Veränderungen oder Anomalien in der Stimme sind oftmals aufgrund der Komplexität der Sprachproduktion schon recht früh erkennbar. Damit könnte man beispielsweise Demenz-Erkrankungen frühzeitiger erkennen, was eine bessere Therapie ermöglicht, und daran arbeiten wir.
„Wir konnten auch Covid-19 erkennen.“
Über Ihre Analyse von Corona-Infizierten haben die Medien sogar bundesweit berichtet.
Ja, wir haben das auch bei Covid-19 eingesetzt und konnten das mit ungefähr 90-prozentiger Zuverlässigkeit bei unserem Prototypen erkennen. Es gibt da einige signifikante Marker, mit denen sich Covid-19 feststellen lässt. Ein Beispiel: das Sprech-Pause-Verhältnis, weil sich die Krankheit im Hals-Lungen-Bereich festsetzt.
Arbeiten Sie vorwiegend für die Gesundheitsbranche?
Das ist ein großer Bereich. Unsere Produkte können aber auch im Alltag eingesetzt werden. Wir bieten zum Beispiel Lösungen für Callcenter an. Damit lassen sich Gefühlszustände von Agenten und Anrufern ermitteln und die Kundenzufriedenheit stärken und der Stress beim Agenten reduzieren. Weiteres Einsatzfeld ist das Video-Gaming.
Was können Sie für die Gaming-Branche tun?
Wir liefern dem Hersteller das Feedback, wie emotional der Spieler in einem Spiel ist oder können die Emotion als Spielkomponente selbst integrieren. Damit lässt sich das Spieledesign aber auch das Produkt selbst verbessern. Wir haben ein Seitenprodukt für Kinder entwickelt. Wir nennen das Entertain Family, wo es darum geht, den Stresspegel der Kinder beim Spielen zu messen und bei Bedarf rechtzeitig zu intervenieren.
Wie kommen Sie an die Audio-Signale der Konsumenten?
Unser Hauptprodukt heißt devAIce. Die Lösung kann in Geräte wie Smartphones, Laptops, Kopfhörer, Roboter oder ähnliches installiert werden. Es ermöglicht die intelligente Audio-Analyse von Umgebungsgeräuschen, genauso wie sozialen Szenen, dem Gesprächsverlauf und den Emotionen, die da eine Rolle spielen sowie die Emotionen des einzelnen. Das Gerät kann so ermitteln, wie sich eine Person fühlt und auf bestimmte Dinge reagiert und sich dadurch besser einstellen, wenn der Nutzer das möchte.
Welche Kunden nutzen Ihre Software?
Wir dürfen keine einzelnen Kunden nennen, weil wir strenge Geheimhaltungsvereinbarungen einzuhalten haben. Aber es gibt Referenzkunden, die wir nennen dürfen. Dazu gehören Huawei, Daimler und BMW.
Was versprechen sich die Firmen von Ihrer KI-Lösung?
Grundsätzlich geht es um das direkte Feedback von ihren Nutzern. Ziele sind bessere Produkte, mehr Interaktion mit ihren Kunden. Man will verhindern, dass Kunden zu einem Konkurrenzprodukt abspringen, weil das stärker auf den individualisierten Bedarf zugeschnitten ist. Und natürlich versuchen die Firmen herauszufinden, wie das Produkt der Zukunft ausschauen soll.
„Rein stimmlich kam Trump besser rüber als Clinton.“
Ließe sich auch für politische Wahlkampagnen einsetzen?
Wir haben das testweise tatsächlich gemacht, etwa beim US-Präsidentschaftswahlkampf 2016. Beim reinen Stimmenvergleich haben wir festgestellt, dass Donald Trump besser rüberkam als Hillary Clinton. Das war überraschend deutlich.
Wir haben auch die österreichischen Politiker Sebastian Kurz, Christian Kern und Heinz-Christian Strache für die Nationalratswahl 2017 verglichen. Kern lag immer im negativen Bereich, selbst wenn er Scherze gemacht hat. Bei Strache gab es wilde emotionale Ausschläge. Nur Kurz traf am häufigsten den staatsmännischen Ton, der von den meisten Wählern als angenehm empfunden wird.
Kämpfen Sie mit Ihrer Technologie nicht gegen Vorbehalte?
Das stimmt leider absolut. In Deutschland sind die Vorbehalte sehr groß, das passiert ihnen in Asien und den USA überhaupt nicht - da sieht man viel mehr die Chance als das Risiko. Unsere Hauptprobleme in Deutschland sind die oftmals konträre, negative Einstellung gegenüber Zukunftstechnologien und der rigide Datenschutz, der es insbesondere innovativen Klein- und Mittelständlern schwer macht.
Sie nutzen sensible Daten. Das wird sehr kritisch gesehen.
Ja, Gesundheitsdaten sind das beste Beispiel. Gerade dieser Bereich birgt enorm großes Potenzial für KI-Anwendungen, aber die Daten sind extrem schwer in guter Qualität zu bekommen. Aber wir brauchen diese Daten, Daten von Gesunden, Daten von Erkrankten in unterschiedlichen Stadien, um unsere Produkte zu verbessern und zum Wohl der Patienten einzusetzen.
Sind die Bedenken der Menschen nicht verständlich?
Oft sind die Leute, die Vorbehalte haben, genau die, die auf Sozialen Medien alles von sich preisgeben. Die dokumentieren mit Fotos und Texten an welchem Strand oder auf welcher Insel sie sitzen. Die schildern ihrer Community im Detail, wie sie körperlich und seelisch drauf sind. Dass nicht nur ihre Community mitliest, haben sie oft nicht im Hinterkopf. Da gibt es eine bizarre Diskrepanz zwischen Eigenwahrnehmung und einer Angst, die eigentlich unbegründet ist.
Wie wirkt sich das für die KI-Entwicklung aus?
Sie brauchen hierzulande sehr viel Investment, um mit KI-Systemen die gleiche Erkenntnisleistung wie in anderen Teilen der Welt zu erreichen. Wir haben dieses Sicherheitsdenken, wir müssen ständig darauf achten, Datenschutz und ethische Grundsätze einzuhalten.
Die Regularien provozieren das, was sie vermeiden sollen.
Brauchen wir keinen Datenschutz?
Die Regularien sind wichtig, nur müssen sie im richtigen Verhältnis stehen. So wie es jetzt ist, kosten sie uns das Momentum, während andere Firmen nur auf die Technologie fokussieren und bessere Produkte liefern können. Das führt dann dazu, das Konkurrenzfirmen, die weniger auf Datenschutz und Ethik achten als wir hierzulande, das bessere Produkt haben, das dann aber auch von unserer Bevölkerung genutzt wird. Das ist, als würde man mit dem Weg, den man beschreitet, um etwas zu vermeiden, genau das zu Vermeidende hervorrufen. Es braucht eine gesunde Mischung, eine Balance.
Die bessere Datenbasis schafft folglich das bessere Produkt.
Ja genau. Die globale Konkurrenz ist intelligenz-technisch nicht besser als wir, sie hat nur bessere Voraussetzungen. Am Ende entscheiden insbesondere die verfügbare Datenqualität und Datenmenge den Wettbewerb, obwohl es natürlich auch ein Vorteil sein kann, genau den Sicherheitsaspekt rund um Datenschutz und Ethik herauszukehren. Das tun wir auch entsprechend, da unsere Produkte unter der Prämisse entwickelt wurden.
Was sagt die Politik dazu?
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hat mich 2019 eingeladen, ein Impulsreferat auf dem Industriekongress zu sprechen. Eine große Frage war da, wieso haben wir in Deutschland keine Facebooks, Apples, Googles oder so etwas.
Und? Warum haben wir das nicht?
Die Antwort ist ganz einfach. Wir lassen es nicht zu. Wir verhindern das mit unserer Sicherheits- und Risikovermeidungsstrategie. Wir haben keine positive Fehlerkultur, wir stehen uns mit unserer Überregulierung oft selbst im Weg. Die Frage ist aber auch: Brauchen wir so große Unternehmen? Davon bin ich nicht überzeugt. Ich finde es sinnvoll, auf unseren starken Mittelstand und unsere Innovationsunternehmen zu setzen. Denen müssen wir ermöglichen, Produkte und Technologien zu schaffen, die attraktiv für die IT-Giganten sind. Auch so können wir mitbestimmend sein.
Wir sind auf lange Sicht nicht breit konkurrenzfähig.
Der Abschlussbericht des Bundeswirtschaftsministeriums liest sich aber gut, der klingt abschnittsweise fast euphorisch.
Das mag für die Industrie zutreffen. Aber für alles, was mit Big Data und KI zu tun hat, muss man klar sagen: Die Unternehmen in den USA, China und Israel haben nicht nur mehr Kapital und besseren Zugang dazu, sie haben auch viel weniger Regulierung als wir und deutlich mehr Unterstützung. So sind wir auf lange Sicht nicht breit konkurrenzfähig, sondern nur in kleinen Teilbereichen.
Es gab viele Datenskandale, nicht nur bei Facebook. Daten von Versicherungen und Gesundheitsapps wurden weiterverkauft, Krebsbefunde lagen bei McDonalds rum – provoziert das nicht Regulierung?
Natürlich darf das nicht passieren, aber man muss den Menschen dann auch die ganze Wahrheit erzählen. Millionen Bundesbürger haben einen smarten Speaker bei sich zu Hause, mit dem sie kommunizieren. Das Unternehmen, von dem sie den Speaker haben, meldet ein Patent für eine Technik an, das aus diesen Sprachsignalen Gesundheitszustände erkennt. Das Patent wird angemeldet in den USA, wo der Datenschutz nicht so engmaschig ausgelegt wird. So wird Marktmacht ausgebaut.
Die EU-Kommission argumentiert, wir könnten mit den Siegeln datenschutzkonform und ethisch sauber auf dem Markt punkten.
Dann bekommen wir über die Hintertür genau das, was wir verhindern wollen. Dann werden Produkte aus Asien und den USA die Telemedizin und den Gesundheitsbereich beherrschen, weil sie die bessere Datenbasis haben als wir. Genau das macht ihre Systeme so viel besser. Es geht darum, die richtige Balance zu schaffen zwischen dem Vertrauen und dem Schutz der Menschen und den Möglichkeiten.
Wie könnte man diese Balance herstellen?
Pragmatische Ansätze für Prüfungen, schnelle Verfahren, standardisierte Zertifikate, die einer stringenten Methode folgen, können dies ermöglichen.
Was ist mit den Konsumenten? Spielen die weiter brav mit?
Die Leute werden immer das nutzen, was am besten und am einfachsten funktioniert. Stellen Sie sich vor, Sie haben Krebs, dann werden Sie immer das Produkt nehmen, das am besten hilft. Dann ist Ihnen der Datenschutz, salopp gesagt, egal, Sie wollen nur eines: wieder gesund werden. Die Anwendungsintensität ist natürlich situativ unterschiedlich und verändert sich auch dynamisch. Das müssen die Systeme abbilden können.
Was wäre Ihrer Ansicht nach zu tun?
Wir müssen deregulieren und schauen, wie es funktioniert. Wir brauchen einen standardisierten und pragmatischen, transparenten Zertifizierungsprozess, je nachdem, wofür die Technologie eingesetzt wird. Wir müssen damit Vertrauen in der Bevölkerung und auch bei den Unternehmen untereinander schaffen. Dieser Prozess muss aber auch für KMU umsetzbar sein, darf also nicht verwaltungs- und kostenintensiv sein. Wir müssen uns endlich erlauben, Fehler zu machen und daraus zu lernen, ohne dass die gesamte Vorarbeit als schlecht angesehen wird.
Sind uns China und USA technisch nicht schon längst enteilt?
Technisch können wir im Bereich KI das auch, was die Konkurrenten in China und den USA machen. Viele wesentliche Forschungsleistung aus dem Bereich kommt aus Europa, insbesondere aus Deutschland. Die Problematik liegt eher darin, die „PS“, die wir forschungsseitig entwickeln, tatsächlich quasi „ins Auto“ und „auf die Straße“ zu bringen. Da muss man ansetzen. Wachstumsförderung ist hier auch ein wesentlicher Punkt.
Wie haben Sie mit Ihrem Unternehmen auf die Pandemie reagiert?
Wir haben rund 80 Mitarbeiter an unseren beiden Standorten in Gilching und Berlin. Pandemie-bedingt ist unsere Arbeit momentan sehr stark vom Home-Office geprägt. Wir sind da sehr flexibel, was das angeht. Als Tech-Unternehmen tun wir uns da natürlich auch leichter als etwa ein Handwerksbetrieb.
Technologie-Firmen haben meist eine sehr bunte Belegschaft. Ist das auch bei audEERING so?
Wir haben einen Frauenanteil von 50 Prozent, unsere Mitarbeiter kommen aus 15 Nationen. Gerade bei innovationsgetriebenen Unternehmen finde ich diese Diversifikation unheimlich spannend. Die unterschiedlichen Sichtweisen bringen uns viel Input. Ich finde diese Vielfalt produktiv. Das Team hat sich sehr schön gefunden.
Bilden Sie aus?
Wir sind IHK-Ausbildungsbetrieb, was im KI-Bereich sehr spannend ist. Wir fördern junge Talente mit Ausbildungsberufen im Bereich Data-Management, Fachinformatiker, und wir sind dabei, mit Schüler-Praktika Jugendliche auch mit KI zu infizieren. Damit darf man nicht waren bis Mitte 20, wir müssen diese Faszination früher vermitteln. Wer programmieren kann und mit Mathe und Statistik früh vertraut ist, kann selbst viel besser entscheiden, ob und wie eine Technologie eingesetzt werden soll. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Außerdem ist KI sehr kreativ und insbesondere auch etwas für neugierige Menschen.
„Die Politik hat viel Vertrauen verspielt.“
Auch wenn die Inzidenzwerte wieder steigen, bewegen wir uns wieder Richtung Normalität. Wie soll es nach der Krise weitergehen?
Wir brauchen endlich einen Plan. Die Politik hat in der Corona-Zeit viel Vertrauen verspielt mit Entscheidungen und Regelungen, die nicht mehr nachvollziehbar waren. Es geht also darum, Vertrauen wieder aufzubauen. Aber dafür reichen ein paar Ideen und einzelne Schritte nicht. Wir lösen unser KI-Problem nicht, in dem wir 500 neue Lehrstühle besetzen und das war’s dann. Das ist natürlich ein sinnvoller und äußerst begrüßenswerter Schritt, aber er löst nur einen Teilaspekt des Problems.
Forschung scheint aber doch ein sehr sinnvolles Investment zu sein.
Universitäten und Professoren liefern Grundlagenforschung – das ist gut, aber da waren wir schon immer gut. Was uns fehlt, ist eine Strategie für die Umsetzung, für die Anwendung aus der Forschung heraus, die man reell nutzen kann, für das Wachstum nach der ersten Innovationsphase. Wir entwickeln das, womit dann andere Geld verdienen, weil sie das Potenzial erkennen und in der Umsetzung schneller sind. Dass wir in dieser Rollenverteilung unseren Wohlstand nicht sichern, muss jedem klar sein.
Die Politik verspricht ein Jahrzehnt der Modernisierung. Macht Ihnen das Hoffnung?
Ich bin echt froh, dass diese Modernisierung endlich anfängt. Das Leibniz-Rechenzentrum hat einen Quantencomputer. Auch das finde ich gut. Das geht alles in die richtige Richtung. Einzelne Bereiche werden nun zügig digitalisiert und auch das ist wunderbar. Ein stringentes Gesamtkonzept, das den Prozess zwischen Forschung–Innovation–Umsetzung wirklich effizient für KMU wie für Großunternehmen möglich macht, kann ich aktuell in einigen Ansätzen erkennen, aber nicht in vollem Umfang.
Können Sie Leute verstehen, die sagen, KI ist ja toll, aber auf meinem Rechner funktioniert das Homeschooling nicht?
Genau das ist unser Problem. Die einfachsten Dinge funktionieren nicht, weil die Umsetzungsstrategie fehlt. Es ist nach wie vor zu zerstückelt und Einzelprojekt-getrieben. Ich kann einen super Motor entwickeln und bauen. Der ist aber völlig nutzlos, wenn ich es nicht schaffe, den in Autos einzubauen und auf die Straße zu bringen.
Hat Sie das Ausmaß der digitalen Mängel überrascht, die Corona sichtbar gemacht hat?
Nein, das habe ich schon vorher gewusst. Was mich überrascht hat, waren die großen Diskrepanzen in einzelnen Bereichen. Beispiel: Homeschooling. Ich habe zwei Kinder. In der einen Schule hat alles hervorragend funktioniert, da hat sich der Schulleiter persönlich dafür eingesetzt, da gab es eine eigene Schulcloud, die Lehrer haben sich sehr engagiert und wirklich eine tolle Leistung erbracht. Chapeau an dieser Stelle. In der anderen Schule herrschte über die gesamte Zeit permanente Unsicherheit und mangelhafter Technologieeinsatz. Wir müssen daran arbeiten, hier gleiche Bedingungen schaffen, egal ob Pandemie oder nicht.
Wer hat denn Schuld an der Misere?
Wenn wir beim Beispiel Schule bleiben: Ich laste das denen an, die die Schulen mit entsprechenden IT-Systemen und Lösungen versorgen sollten – und die dafür Sorge tragen, dass die Lehrer ausgebildet werden für das Homeschooling und für die auch zukünftig digitale Arbeit. Man sollte hier aus der Pandemie lernen und Defizite effizient lösen. Eine verstärkte Digitalisierung im Bildungsbereich ist sowohl inhaltlich als auch infrastrukturell dringend notwendig.
Die Pandemie ging zu Lasten der Kinder und Frauen.
Mütter sind flexibel und lösungsorientiert
Wie lautet Ihr persönliches Lockdown-Fazit?
Dass es unserem Staat in der Krisensituation an Effizienz mangelt. Da gab es Strategien und Maßnahmen, die ein Unternehmer nie in der Art umsetzen würde, schon gar nicht mit den einhergehenden Kosten. Die Pandemie ging überwiegend zu Lasten der Kinder und Frauen. Ich habe sehr viele Frauen mit Kindern sowohl in Vollzeit als auch Teilzeit im Unternehmen. Als Chefin habe ich alles versucht, um den Stress zu reduzieren für die Mütter – mit Homeoffice, flexiblen Arbeitszeiten, flexibler Stundenreduzierung und so weiter und gleichzeitig versucht, das Unternehmen mit ungebremster Leistung laufen zu lassen.
Trotzdem mussten sie kämpfen, kämpfen, kämpfen. Das ist eine der Erkenntnisse, die wir aus der Krise ziehen sollten. Wir müssen die Arbeitsplätze so gestalten, dass dieser Stress minimiert wird.
Wie reagieren Sie auf den Fachkräftemangel?
Einerseits biete ich einen Arbeitsplatz, der flexibel auf persönliche Bedürfnisse zugeschnitten wird. Ich fokussiere mich auf Talent und Motivation. Für mich zählt das Ergebnis. Ich freue mich auch darüber, dass andere Unternehmen qualifizierte Mütter mit kleinen Kindern nicht so gerne nehmen. Dann kann ich sie einstellen. Das ist eine meiner Lieblingszielgruppen. Und wissen Sie warum? Weil Mütter flexibel und lösungsorientiert sein müssen und sich für das Ergebnis einsetzen.
Man denke da an alltägliche Situationen, die allein schon fordernd sind und mit denen sie spontan umgehen müssen: Wenn sich das Kind beim Einkaufen auf den Boden wirft und schreit, oder das Kind krank wird und nicht mehr raus kann und von einem Moment auf den anderen reagiert werden muss. Mütter müssen ständig Probleme lösen, erlauben sich aufgrund der Situation auch Fehler, die sie aber in Lösungsstrategien transferieren. Dadurch verbessern sich Mütter permanent. Leider wird das kaum gesehen.
Sie werden offensichtlich gut gesehen. Sie haben es gleich bei Ihrer ersten Kandidatur in die IHK-Vollversammlung geschafft.
Ja, es hat mich unglaublich gefreut, dass ich gleich beim ersten Mal in die Vollversammlung gewählt wurde. Dass ich dann auch noch in das Präsidium gewählt worden bin, war für mich wirklich ein Meilenstein, und ich bin sehr glücklich, dass ich für die Unternehmerinnen und Unternehmer der IHK tätig sein darf.
Wieso engagieren Sie sich im Ehrenamt?
Ich möchte insbesondere in meinem Bereich Innovation und Technologie aktiv dazu beitragen, dass wir als IHK für die Unternehmerinnen und Unternehmer wesentlich bei den politischen Entscheidern die Notwendigkeiten aufzeigen, Strukturen definieren und Grundlagen schaffen, die es ermöglichen, effizient, positiv und flexibel an Innovations- und Technologiethemen heranzugehen und vor allem Vertrauen in diesen Bereichen für unsere Mitglieder zu schaffen. So können wir unsere Wirtschaftsregion erheblich stärken und Wachstum fördern.
Welche Frage würden Sie den anderen Mitgliedern des Präsidiums gerne stellen?
Was treibt sie an? Das will ich immer gerne wissen: Was ist die persönliche Motivation? Warum macht jemand das, was er macht? Was mich weiter interessiert, sind die Werte. Welchen Wertekanon hat jemand anderer? Das ist die Basis, auf der er seine Entscheidungen trifft. Diese Einflüsse von außen finde ich unglaublich spannend. Das, was ich von unserem Präsidenten und den anderen Vizepräsidenten höre, bringt mich auch persönlich weiter.
Für welche Themen wollen Sie sich in der IHK engagieren?
Ich habe ja diesen technologie- und innovationsgetriebenen Background. Die digitale Infrastruktur ist für mich natürlich ein großes Thema, genauso wie Zukunftstechnologien. Ich stehe aber ganz grundsätzlich auch für einen anderen Anspruch und Positivismus gegenüber unserer eigenen Leistung. Bislang waren wir in München und Oberbayern immer glücklich darüber, dass sich hier die Creme de la Creme der US-IT-Industrie angesiedelt hat. Ich will, dass wir selbst diese Creme de la Creme an Unternehmen nachhaltig hervorbringen.
Ich will Gründerinnen motivieren.
Was tun Sie für die Frauen in der Wirtschaft?
Ich will Gründerinnen motivieren. Wenn man sich die Firmen der Unternehmerinnen so anschaut, sind das meist Kleinstbetriebe mit zwei oder drei Mitarbeitern. Ich denke, das liegt auch daran, dass sich Frauen zu wenig zutrauen. Deshalb sage ich ihnen: Gehe einen Schritt weiter, probiere es aus, mache es groß, hab‘ Spaß daran.
Ihr Fachwissen könnte auch für die Politikberatung wertvoll sein.
Ich helfe Entscheidungsträgern gerne. In kann Hinweise geben, wie sich das umsetzen lässt, was sie strategisch gerne hätten. Und ich kann praktisches Feedback liefern für die Frage, wie lange es braucht, bestimmte Dinge umzusetzen in Bildung und Digitalisierung und natürlich auch für den Bereich KI und Technologietransfer.
Erwarten Sie sich frischen Wind von der neuen Bundesregierung?
Ich hoffe sehr, dass die neue Regierung es schafft, wieder Vertrauen aufzubauen. Wenn das nicht gelingt, wird es ganz, ganz schwierig für das gesamte Land.
Wie ließe sich Vertrauen aufbauen?
Die Menschen müssen den Eindruck haben, dass die neue Regierung nicht nur redet, sondern wirklich handelt, dass sie als Team auf ein Ziel hinarbeitet. Am besten wäre dafür ein konkreter Umsetzungsplan, mit regelmäßigen Updates, den jeder Bürger versteht: Das wurde versprochen, das wurde gehalten, das ist noch zu tun.
Zur Person Dagmar Schuller
Geschäftsführerin und Mitgründerin des Audio KI-Unternehmens audEERING in Gilching und Berlin. Die gebürtige Österreicherin ist Mutter zweier Kinder, hat eine Ausbildung in Informatik und studierte anschließend Wirtschaftswissenschaften (Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik, Master) und Rechtswissenschaften (Schwerpunkt IP/IT-Recht). Dagmar Schuller hat mit ihrem Unternehmen neben dem VDE Award 2019 und dem Vision Award 2019 auch den innovationspreis Bayern 2018 (Hauptpreis) für die Technologie und Innovation gewonnen. Sie ist (Co-)Autor von rund 20 wissenschaftlichen Publikationen zum Thema KI. Seit Juni 2021 ist Dagmar Schuller Mitglied des Präsidiums und der Vollversammlung der IHK für München und Oberbayern.