Klaus Josef Lutz zur Europawahl: „Der Dexit wäre eine Katastrophe“
IHK-Präsident Klaus Josef Lutz erklärt im Interview, was bei der Europawahl am 9. Juni 2024 auf dem Spiel steht – und was Europa künftig besser machen muss.
Lutz zur Europawahl 2024: "Der 9. Juni ist ein ganz zentraler Tag"
Herr Lutz, Sorge, Spannung oder Vorfreude - mit welchen Gefühlen schauen Sie auf die Europawahl?
Diese Gefühle sind sehr gemischt. Ich zweifle, ob in der Bevölkerung wirklich klar ist, welche Bedeutung diese Wahl hat.
Wie wichtig ist denn diese Wahl?
Der 9. Juni ist ein ganz zentraler Tag. Da wird entschieden, wie es in den nächsten Jahren in Europa insgesamt und bei uns zu Hause weitergeht. Die meisten Gesetze, die wir heute haben, haben ihren Ursprung in Brüssel. Was dort passiert, bestimmt unsere Lebensbedingungen also maßgeblich. Das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern zum Beispiel auch für die Gesellschaftspolitik und außenpolitische Fragen.
Also die Wahl ist wichtig, aber zu wenige wissen das. Welche Konsequenz hat das?
Wir als Unternehmerinnen und Unternehmer haben die Aufgabe, ich würde fast sagen: die staatsbürgerliche Verpflichtung, dazu beizutragen, dass sich genau das entwickelt – ein stärkeres und schärferes Bewusstsein für die Bedeutung der Europawahl. Dafür haben wir nur noch ein paar Wochen Zeit. Aber die müssen wir gemeinsam nutzen.
Laut Prognosen werden rechtspopulistische Parteien deutlich erstarken. Was wären die Folgen?
Mehr Nationalismus, mehr Protektionismus, mehr Diskriminierung, mehr Demokratiefeindlichkeit und ähnliche schlimme Dinge. Wir IHKs sind zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet. Was aber auch klar ist: Wir stehen ein für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland und Europa, für eine offene und vielfältige Gesellschaft sowie für die nachhaltig- soziale Marktwirtschaft und alle damit verbundenen Freiheitsrechte. Wer diese höchsten Werte und Rechte angreift, gegen den stellen wir uns im Gesamtinteresse der Wirtschaft, egal wie die Partei heißt.
Wir stehen ein für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland und Europa, für eine offene und vielfältige Gesellschaft sowie für die nachhaltig- soziale Marktwirtschaft und alle damit verbundenen Freiheitsrechte.
Einige halten Europa für sturmreif.
Ja, in Deutschland hat etwa die AfD in ihrem Programm das Ziel klar vorgegeben: Die Europäische Union samt Parlament soll abgeschafft werden und eine neue Gründung erfolgen. Was das genau bedeutet, ist mir nicht klar. Im Zweifel heißt das wohl: Deutschland raus aus Europa.
Das kann die Wirtschaft kaum wollen.
Um es klar zu sagen: Der Dexit wäre eine Katastrophe sowohl für das Miteinander in Europa als auch für unser Land und unseren Wohlstand. Wer so etwas fordert, begreift einfach nicht, welche Bedeutung die europäische Zusammenarbeit, der EU-Binnenmarkt und der Euro als einheitliche Währung für uns hat. Würde Deutschland aus EU und Eurozone austreten, rechnet zum Beispiel das Institut der deutschen Wirtschaft mit einem Wohlstandsverlust in Deutschland von bis zu 500 Milliarden Euro jährlich. Mehr als zwei Millionen deutsche Arbeitsplätze wären bedroht. Trotz aller Probleme und aller Überregulierung der letzten Jahre: Wir brauchen die Europäische Union, jetzt und in Zukunft mehr denn je.
Warum hat die EU dennoch so ein schlechtes Image?
Das liegt schon daran, dass gar nicht so einfach zu erklären ist, wie in Brüssel entschieden wird. Das sind meist von Parlament, Kommission und Rat mühsam ausgehandelte Kompromisse. Fast niemand kennt die entscheidenden Akteure. Oder können Sie mir die für Wirtschaftsfragen zuständigen EU-Kommissare nennen?
Da müsste ich googeln.
Was in der Wirtschaft viele verstimmt, sind zudem die widersprüchlichen Botschaften der EU-Kommission. Da wird von wirtschaftlicher Freiheit gesprochen, tatsächlich beschäftigt sich damit nur die Wettbewerbskommission. Brüssel hat in den letzten Jahren auf kleinteilige Regulierung, staatlichen Dirigismus und komplexe Zuschussprojekte gesetzt statt auf Entfesselung von Innovationen und Investitionen durch marktwirtschaftliche Anreize. Das Leitbild hat sich verschoben: weg von Eigenverantwortung, hin zu Vorsorge gegen alle Eventualitäten. Der Verbraucher wird als Betreuungsfall eingestuft und nicht mehr als mündiger Bürger. Hier ist ohne Zweifel eine Politikwende nötig.
Wir brauchen mehr Transparenz über das, was in der Kommission und im EU-Parlament passiert. Die Berichterstattung dazu ist ausbaufähig.
EU-Parlamentarier klagen, man erfahre hierzulande zu wenig über ihre Arbeit.
Ja, völlig zurecht. Wir brauchen mehr Transparenz über das, was in der Kommission und im EU-Parlament passiert. Die Berichterstattung dazu ist ausbaufähig. Dazu kommt die Neigung der nationalen Regierungen, schnell Europa die Schuld zu geben, sobald es im eigenen Land Probleme gibt. Wenn Europa immer der Sündenbock ist und wenn es die EU nicht schafft, ihre Lösungsansätze besser zu erklären, darf man sich über Imageprobleme nicht wundern.
Viele EU-Gegner sind aber mit Sachargumenten nicht mehr zu überzeugen.
Es gibt in unserer Gesellschaft leider ein Sediment, das extrem negativ ist. Das Verhalten lässt sich rational nicht mehr erklären, diese Ablehnung ist einfach da. Warum auch immer.
Sie haben auf der BIHK-Konjunkturpressekonferenz erklärt, wie schlecht Bayerns Unternehmen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beurteilen. Trägt das nicht auch zur EU-Misere bei?
Tatsächlich wurde die Wirtschaftspolitik von den bayerischen Unternehmen als größtes Geschäftsrisiko eingestuft, noch vor der Inlandsnachfrage und dem Arbeitskräftemangel. Ich glaube auch, dass die Unternehmen die Verantwortlichkeit zwischen EU, Bund und Land nicht unterscheiden können. Das ist, bildlich gesprochen, alles eine Suppe, und die löffeln wir gemeinsam aus. Leider hat es aber die EU selbst nicht verstanden, die Bürgerinnen und Bürger stärker für sich zu begeistern. Politik besser zu erklären, die eigenen Leute mehrheitlich zu gewinnen - das wäre eine große und wichtige Aufgabe.
Die EU als Friedensprojekt, das überzeugt und begeistert mich, das ist von unendlichem gesellschaftlichen Wert.
Auch Sie haben die EU häufig kritisiert.
Immer dann, wenn ich zu viel Planwirtschaft und zu wenig Marktwirtschaft sehe, zu viel Regelungstiefe und zu wenig Eigenverantwortung. Ebenso klar sage ich auch: Europa ist unverzichtbar, Europa hat immer eine weitere Chance verdient. Deswegen müssen möglichst viele Menschen zur Europawahl gehen. Als ehrbare Kaufleute übernehmen wir Verantwortung für ein Europa, in dem es auf unternehmerische Freiheit in einer nachhaltig-sozialen Marktwirtschaft ankommt, auf ein Miteinander in der Vielfalt und auf Weltoffenheit.
Was halten Sie für den größten strategischen Fehler der EU?
Den Hang zum Mikrosteuerung kompletter, komplexer Volkswirtschaften. Das ist faktisch Planwirtschaft. Das hat noch nirgendwo auf der Welt funktioniert. Damit wurden unternehmerische Freiheit und Innovationskraft schon im Keim erstickt.
Was verstehen Sie unter Mikrosteuerung?
Die Sustainable Finance Regulation und die damit verbundene Taxonomie sind dafür die besten Beispiele. Ein aberwitzig aufwändiges Regelwerk, das bis zur Festlegung des Volumens einer Toilettenspülung klären will, welche Wirtschaftstätigkeiten nachhaltig oder nicht nachhaltig sind.
Das wollen doch viele Bürger und Anleger wissen.
Ja, aber wirklich bis ins kleinste Detail? Sind sie dann hinterher wirklich schlauer? Und wird dies einer dynamischen Realität gerecht? Die Landesverteidigung kam so zum Beispiel unter Beschuss, nämlich unter sozialen Gesichtspunkten nicht mehr erwünscht zu sein. Finanzinstitute und Versicherungen sind aus dem Geschäft ausgestiegen. Dann gibt es plötzlich diesen schrecklichen Krieg in der Ukraine und wir stellen fest, dass wir Militärgüter dringend brauchen: Panzer, Drohnen, Raketen, Kampfjets und Munition, und zwar möglichst schnell. Was wir befürchtet haben, ist eingetreten: Die Expertengremien haben in ihrer jeweiligen Blase eine Taxonomie geschaffen, die ihrer Wunschvorstellung entspricht, aber im Praxis-Check durchfällt. Auch die Landwirtschaft oder noch fossile industrielle Wertschöpfung, die noch am Beginn des Transformationspfads ist, gelten als besonderes Risiko und werden Benachteiligungen in der Kredit- oder Anlagenfinanzierung erleben. Alles angerichtet von der Taxonomie.
Gibt es ein EU-Projekt, von dem Sie sagen, da bin ich mit Herz und Seele dabei?
Die EU als Friedensprojekt, das überzeugt und begeistert mich, das ist von unendlichem gesellschaftlichen Wert. Die Basis von allem. Auch die wirtschaftliche Integration ist mir ein Herzensanliegen, weil es dazu keine vernünftige Alternative gibt.
Was halten Sie von REPowerEU, dem Versuch, sich unabhängig von Gas, Öl und Kohle aus Russland zu machen und die Energiewende voranzubringen?
Eine integrierte Energiepolitik in der EU wäre bitter nötig, das ist etwas Sinnvolles. Leider haben wir bislang nur eine bruchstückhafte Lösung. Die Energieversorgung ist immer noch Aufgabe der Nationalstaaten. Das ist sehr schade, weil für viele Unternehmen in ganz Europa genau die Frage entscheidend ist: Habe ich eine sichere und bezahlbare Energieversorgung?
Nach der Europawahl 2024: "Wir brauchen mehr Liberalität, mehr Marktwirtschaft und viel weniger Regulierung"
Gibt es da keine schnelle Lösung?
Wenn ich mir nur den Streit anschaue um die Frage, was ist grüne Energie, was ist braune, glaube ich nicht daran. Allein die Dissonanz zwischen Frankreich und Deutschland ist in dem Punkt strukturell so gravierend, dass man das kaum auflösen kann.
Vieles von dem, was Sie fordern, verspricht auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: mehr Tempo, weniger Regulierung. Was klemmt da in Brüssel?
Entweder hat sie sich mit marktwirtschaftlichen Prinzipien nicht durchsetzen können oder nicht wollen. Wenn es Frau von der Leyen ernst meint mit der Deregulierung, wäre das ein guter Ansatz für eine zweite Amtszeit.
Bürokratieabbau verspricht man in Brüssel seit Jahren. Warum kommt man da nicht weiter?
Ein Grund ist wohl, dass man in der Kommission und im Parlament immer eine Machtbalance zwischen widerstreitenden Interessen managen muss. Frans Timmermans, der einstige Exekutiv-Vizepräsident für den Green Deal, hat beispielsweise zur Erreichung der ökologischen Ziele viel zu viel auf planwirtschaftliche statt auf marktwirtschaftliche Mechanismen gesetzt. Deshalb wurde das richtige, weil effiziente Leitinstrument des Emissionsrechtehandels von überbordenden ordnungsrechtlichen Vorschriften überdeckt.
Stichwort Green Deal. Von der Leyen und Bundeskanzler Olaf Scholz haben das Gespräch mit US-Präsident Joe Biden gesucht, weil der Inflation Reduction Act (IRA) in den Vereinigten Staaten auch unsere Unternehmen anlockt. Was machen die USA besser?
Überspitzt formuliert: Der Europäer reguliert, der Amerikaner macht. Die USA setzen ganz stark auf simple steuerliche Anreize, die EU kombiniert Subventionen mit komplexen Anträgen, Vorgaben und Regularien. Damit verlieren wir Zeit und Effizienz. Im Standortwettbewerb ist das kontraproduktiv. Und wenn die USA erfolgreicher sind – warum nicht die bessere Lösung kopieren?
Mit dem Mercosur-Abkommen arbeitet die EU am Abschluss eines Projekts, das die Wirtschaft absolut begrüßt. Dagegen laufen nun Frankreichs Bauern Amok, Staatschef Macron hat von der Leyen gebeten, die Verhandlungen zu stoppen. Droht Europa die Handlungsunfähigkeit?
Das kann passieren, weil wir in der EU nach wie vor das Konsensprinzip haben. Selbst kleine Länder können große, wichtige Vorhaben blockieren. Das gilt auch für neue Handelsabkommen, die wir sicher brauchen. Das Parlament schließt schon Ende April. Es folgen Wahlkampf, Wahl und Neukonstituierung von Parlament und Kommission. Es ist aus heutiger Sicht nicht klar, wie künftig die Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament sein werden und wie sich das auf die Zusammenstellung und die Arbeit der Kommission auswirken wird. Klar ist nur: Handelspolitisch wird es in den nächsten Monaten keine Durchbrüche geben.
Was bringt uns die mutmaßlich zweite Amtszeit von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen?
Ich glaube, dass es in der EU-Politik eine Tekturverschiebung geben wird. Mit dem bisherigen Kurs der Detailregulierung kommen wir ja nicht weiter. Das ist offensichtlich – wir müssen in die Gegenrichtung. Wir brauchen mehr Liberalität, mehr Marktwirtschaft und viel weniger Regulierung. Das erhoffe ich mir jedenfalls. Und ich hoffe, dass die Mehrheit der demokratisch gesinnten Wählerinnen und Wähler in Bayern, in Deutschland und in allen EU-Ländern das auch so sieht.
Das Interview führte Martin Armbruster für das IHK-Magazin (Ausgabe April 2024)